Um diese Frage zu beantworten, möchte ich erstmal auflisten, warum in den letzten 12 Jahren Personen politische Spitzenämter unfreiwillig aufgeben musste.
Franz Josef Jung, Verteidigungsminister, November 2009 ist aufgrund von politischem und medialem Druck in der sogenannten Kundus-Affäre zurückgetreten. In der Kundus-Affäre hatte er als zuständiger Verteidigungsminister bei einem deutschen Angriff in Afghanistan verspätete, unvollständige und falsche Aussagen über die Tötung von Zivilisten gemacht.
Horst Köhler, Bundespräsident, Mai 2009 ist zurückgetreten, um Schaden vom Amt abzuhalten, nachdem er gesagt hatte, dass Deutschland auch militärisch eingreifen sollte, um den deutschen Handel, Arbeitsplätze und Einkommen zu schützen. (Funfakt: Die aktuelle Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer wurde für eine ähnliche Aussage bei der Grundsatzrede 2020 zum feierlichen Gelöbnis beklatscht. Bei ihr handelt es sich aber nicht nur um Worthülsen, sondern mit dem Entsenden der Fregatte Hamburg ins Südchinesische Meer lässt sie auch Taten folgen)
Karl-Theodor zu Guttenberg, Verteidigungsminister, März 2011 Guttenberg trat zurück, nachdem der mediale Druck durch die Plagiatsaffäre bei seiner Doktorarbeit zu groß wurde.
Norbert Röttgen, Umweltminister, Mai 2012 Wurde von Merkel entlassen, nachdem er als Spitzenkandidat für die NRW-Landtagswahl eine starke Niederlage erlitt.
Annette Schavan, Bildungsministerin, Februar 2013 trat zurück, nachdem ihr Doktortitel vom Fakultätsrat entzogen wurde und sie rechtliche Schritte dagegen einlegte, da sie als zuständige Ministerin in einem Interessenkonflikt war (Diese wurden später alle abgewiesen).
Hans-Peter Friedrich, Innen-/Landwirtschaftsminister, Februar 2014 trat in Folge der Edathy-Affäre zurück. Dort hatte er dem SPD-Vorsitzenden Gabriel vor laufenden Ermittlungen gegen den SPD-Politiker Edathy unterrichtet. (Geheimnisverrat)
Wie wir sehen, ist in den letzten 12 Jahren nur ein Minister entlassen worden und die meisten Minister sind aufgrund von politischem und medialem Druck zurückgetreten. Insbesondere waren es Vorfälle, die die Glaubwürdigkeit der Politiker beschädigt haben (Friedrich/Gutenberg/Schavan/Jung), die zum Rücktritt führten.
Bilanz Scheuer
Nun schauen wir uns die Bilanz nach etwa 2,5 Jahren Andreas Scheuer als Verkehrsminister an. Diese Auflistung ist lange nicht vollständig und die Punkte sind sehr verkürzt, da jeder einzelne Punkt einen ganzen Artikel füllen könnte.
Stickstoff Grenzwerte für Dieselautos Frühjahr 2019
In Folge der Dieselaffäre klagt die Umwelthilfe gegen Städte in Deutschland. Sie fordert die Einhaltung der Stickstoffgrenzwerte. Nachdem einige Lungenärzte ein Papier veröffentlichten und die Grenzwerte angriffen, geht Andreas Scheuer mit diesem Papier nach Brüssel und fordert die Aufweichung der Grenzwerte. Internationale und auch nationale Experten widersprechen dem Papier massiv, später räumte der Hauptautor Köhler Fehler in den Berechnungen ein. Scheuer beschädigt damit massiv die deutsche Reputation in Brüssel. Aus heutiger Sicht in der Corona-Pandemie muss man sich das mal vorstellen. Der Minister für Verkehr wird kritisiert, dass er leichtfertig Gesundheitsgefährdungen der Bürger in Kauf nimmt, da die Autoindustrie bei den Prüfungen geschummelt hat und die von ihnen gebauten Autos zu viel Stickstoff ausstoßen. Und der Minister schnappt sich den ersten Strohhalm, der kommt, und versucht die gesundheitsschützenden Grenzwerte aufzuweichen.
Autobahngesellschaft Herbst 2018 – 2021
2018 ist die Autobahngesellschaft gegründet worden, um die Zuständigkeit für Planung, Bau, Betrieb und Erhalt der deutschen Fernstraßen von den Ländern auf den Bund zu übertragen. Dazu sollten die 16 Gesellschaften der Länder in eine Gesellschaft übertragen werden. Die Autobahngesellschaft sollte eigentlich zum 1.1.2021 starten, doch das Projekt ist total gescheitert. Nachdem die Übertragung der Mitarbeiter und der IT nicht funktionierte, hat man sie zunächst zurück in die Ländergesellschaften geschickt. Die DEGES, eine gemeinsame Gesellschaft von 12 Ländern, welche man eigentlich in die Autobahngesellschaft eingliedern wollte, musste man aufgrund von verfassungs- und vergaberechtlicher Bedenken erstmal eigenständig gelassen. Dazu hat man die Verwaltung der Autobahngesellschaft aufgebaut, die eigentlich nichts zu tun hat. Das ganze Projekte wurden zusätzlich von übertariflichen Gehältern für Führungskräfte überschattet. Durch die Verwaltungsdoppelstruktur und die ganzen Transformationen stehen am Ende 1-2 Mrd. Mehrkosten bei teilweise schlechter Versorgung. Wie bei Scheuer üblich, wurde der Bundestag nicht über Planungsschwierigkeiten und Kostenexplosionen unterrichtet. Für mehr Details empfehle ich (Die Anstalt Min 1-11 und hier )
Straßenverkehrs-Ordnung Frühjahr/Sommer 2020
Im Sommer 2020 wird die Novellierung der Straßenverkehrs-Ordnung vom April 2020 von den Innenministern der Länder ausgesetzt aufgrund von Formfehlern. Scheuer hatte bereits kurz nach Inkrafttreten der Reform einige Regelungen darin als unverhältnismäßig bezeichnet. Böse Zungen behaupten sogar, Scheuer hätte bewusst die ihm ungeliebte Reform an die Wand gefahren.
Änderung der Schiffssicherheitsverordnung Frühjahr 2020
Nachdem das Verkehrsministerium mehrfach vergeblich versucht hat, durch Klagen die zivile Seenotrettung im Mittelmehr zu verhindern, änderte es einfach rechtswidrig die Schiffssicherheitsverordnung. Um die Verordnung zu verändern, muss eine konkrete Gefahr vorliegen, diese war nicht der Fall. Im Oktober 2020 kaschierte das OVG Hamburg die Verordnung, da sie gegen Europäisches Recht verstößt. In der Zwischenzeit sind durch das Festsetzen von zivilen Seenotrettern wahrscheinlich etliche Menschen im Mittelmeer ertrunken, nur weil sich ein Herr Scheuer in der eigenen Partei profilieren und etwas zu Seehofers Obergrenze beitragen wollte.
PKW-Maut Sommer 2019 – Herbst 2020
Das Herzensprojekt der CSU, die PKW-Maut (oder auch Ausländermaut) wollte Scheuer unbedingt umsetzen. Das Projekt war von Anfang an in der Kritik, da Deutschland in Europa eine allgemeine Maut ankündigte, im Inland aber die PKW-Maut für Deutsche mit der KfZ-Steuer verrechnen wollte, womit es im eigentlichen Sinne eine Ausländermaut ist. Diese ist europarechtlich nicht erlaubt, weshalb Deutschland lange mit der EU-Kommission ringen musste, bis diese schließlich 2016 ihre Bedenken aufgab. Was Deutschland dafür in den Hinterzimmern in Brüssel zahlen musste, ist nicht bekannt. Österreich gab seinen Widerstand aber nicht auf und klagte vor dem EuGH. Dieser Klage wurde im Sommer 2019 stattgegeben, leider hatte Scheuer schon vorher mit den Betreiberfirmen die Verträge unterzeichnet. Dies tat er ohne große Not, aus internen Unterlagen geht jedoch hervor, dass er die Einführung der Maut aus dem Bundestagswahlkampf 2021 raushalten wollten und deshalb die Einführung im Oktober 2020 nicht gefährden wollte. Bei der Aufklärung verschwanden immer wieder Akten oder wurden als geheim eingestuft, außerdem wurden immer mehr Geheimtreffen mit Scheuer und den Betreiberfirmen bekannt, die teils stattfanden, als die Ausschreibung noch lief. Hinzu kommt, dass das Verkehrsministerium bewusst die Kosten für das Projekt runtergerechnet hatte und in variable Vergütungen umgewandelt hat, um im Kostenrahmen zu bleiben. Alles in allem wird das ganze Projekt den Steuerzahler mindestens 500 Mio. kosten (Kosten für die Planung, Berater, …) , zzgl. der von den Betreiberfirmen zu erwartenden Klagen, die auf eine ähnliche Summe hinauslaufen könnte.
Darum ist Scheuer noch im Amt
Insbesondere nach dem Debakel mit der PKW-Maut fragt sich eigentlich jeder, wieso Scheuer noch im Amt ist. Bereits im Oktober 2019 forderten ca. 60 % der Deutschen einer Umfrage nach den Rücktritt Scheuers. Der erste Grund liegt wohl darin, dass Scheuer, der sich nie einer Schuld bewusst war, wahrscheinlich nicht von alleine zurücktreten wird. In den letzten 20 Jahren sind nur 2 Minister entlassen worden, einmal der oben erwähnte Norbert Röttgen und Rudolph Scharping. Die Hürden bei einem so sturen Bock wie Scheuer sind also hoch. Zusätzlich spielte Scheuer die Coronakrise in die Karten, als er im Untersuchungsausschuss im Herbst 2020 vorgeladen wurde, explodierten zur gleichen Zeit die Infektionszahlen und das Medienecho fiel sehr gering aus. Andere Tatsachen spielen aber auch noch eine entscheidende Rolle. Der CSU-Chef Söder, der als zuständiger Parteichef, Scheuer entlassen müsste, wird nach seinem medialen Hype in der Coronakrise als aussichtsreichster Kanzlerkandidat für die Union für 2021 gehandelt. Nichts würde Söder weniger passen als Unruhe in den eigenen Reihen. Und auch die SPD spielt eine nicht unwichtige Rolle. Sie schonte Scheuer im Untersuchungsausschuss und verhinderte ein Kreuzverhör von Scheuer und den Mautbetreiberfirmen. Interne Stimmen behaupten, dass die SPD hier mit der Union zusammenarbeitet, damit diese ihren Kanzlerkandidaten Scholz für 2021 im Untersuchungsausschuss zum Wirecard-Skandal auch vom Haken lassen.
Zusammenfassend kann man sagen, wir haben einen völlig inkompetenten selbstverliebten Verkehrsminister, der Mrd. in den Sand gesetzt hat, jedoch aus politischem Kalkül und verdammt viel Glück noch im Amt ist und weiter Steuergeld verschwenden darf.
Norin, es liest sich als würdest du selber in den Hinterzimmern des Berliner Politikbetriebs ein- und ausgehen. Lässt sich die Höhe der Scheuergelder beziffern? Ist Wirecard ein versteckter Hinweis auf deinen nächsten Post?
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Hallo Martin,
die Höhe der Scheuergelder lässt sich sehr schwer beziffern, ich habe im Text an einigen Stellen grobe Zahlen hinzugefügt.
Wirecard ist nicht das richtige Stichwort für einen Beitrag, der mir im Kopf schwebt. Jedoch denke ich über einen Post über die Gesamtbilanz von Olaf Scholz nach, insbesondere seiner Machenschaften im Cum-Ex Skandal. Wirecard wird da natürlich einen Anteil haben.
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